- Die Qual der 90 Stunden - ( Marathon-Fahrt Spa - Sofia - Lüttich ) Bericht
aus:
" Kristall " |
|
Über Schotterwege und Paßstraßen hetzen sie ihre rüttelnden Wagen. 5500 Kilometer lang spüren sie nur Hitze, Getöse und Erschöpfung. Durch Tag und Nacht jagen sie von Belgien nach Bulgarien und von Bulgarien zurück nach Belgien. Das ist: - Die Qual der 90 Stunden - Still liegen die Täler unter dem Passo di Xomo in Norditalien und schlafen. Von irgendwo treibt ein leichter Wind das Klingeln von Kuhglocken vor sich her, und tief unten liegt um ein spitztürmige Kirch ein namenloses Dörfchen und sieht aus, als sei es aus Spielzeug aufgebaut. Die Sonne scheit am wolkenlosen Himmel. Es ist ein schöner, warmer, friedlicher Nachmittag. Bis sie kommen. Sie kommen jäh, wie bösartige Invasoren aus einer anderen Welt. Mit brüllenden Motoren,mit durchdrehenden Rädern kommen sie wild schwankend auf dem wüsten Schotterweg daher, der sich sandig und steinig durch die Berge zieht. Sie zwingen ihre mörderisch rasenden Autos durch Spitzkehren, schwere Steine springen gegen Kotflügel, schleudernd ziehen die Wagen dichte Staubfahnen hinter sich her, in denen die nachfolgenden verschwinden. Die eben noch friedlich schlummernden Täler sind plötzlich erfüllt von Getöse hochgetourter Motoren, von durchdringenden Tremolo-Hupen, vom Scheppern der Steine an Autoblech. Kein Blick haben die Fahrer und ihre Co-Piloten für die Schönheit der Landschaft, keine Sekunde, in der sie sich ungestraft entspannen dürfen. Der angeschnallte Beifahrer sieht nichts als sein Bordbuch, aus dem er dem Piloten vorliest: "Rechtskurve, 35 Stundenkilometer - 200 Meter Garade, Vollgas - Spitzkehre links - Vollgas 100 Meter - Spitzkehre rechts." Und der Fahrer sieht nichts als die steinige Piste, gibt Gas, schaltet, bremst, Gas, Kupplung, Gas, Vollgas - schneller, schneller, noch schneller. Seit 18 Stunden. Seit gestern abend 22 Uhr. Mit ungeheurer Wucht und ekelhaften Geräuschen schlagen Bodenbleche auf die steinige Erde. Mensch und Wagen - umgeben von Staub und höllischen Lärm - werden durchgeschüttelt. Hier kann der Fahrer nicht mogeln und nicht das Auto. Hier kann man keine Schow mit Rallyestreifen und keinen sportiven Playboy-Firlefanz machen. Dieses ist hier alles kein Kriterium. Denn hier, auf dem schmalen Schotterweg am Passo di Xomo, läuft die 18. Stunde des mörderischsten Kampfes des an mörderischen Kämpfen reichen Automobilsports: Die Rallye Spa - Sofia - Lüttich, und sie wird noch 72 Stunden dauern und über noch verwegenere Streckenteile gehen. 90 Stunden dauert diese Rallye, und eine einzige, lächerliche kurze Stunde Pause gibt es. 5500 Kilometer lang ist diese Rallye, und unendliche Kilometer sind darunter, halsbrecherische Kilometer auf ungeschützten Geröllstraßen im Hochgebirge, mit tödlichen Absprüngen auf der einen und tödlichen Felsvorsprüngen auf der anderen Seite. 90 ewige Stunden lang kann auf dieser Rallye jedes Versehen das Ende bedeuten. 90 ununterbrochene Stunden lang muß der Wille konserviert werden, weiterzumachen, nicht einzuschlafen, nicht der lähmenden Erschöpung nachzugeben, die irgendwann einmal jeden überfällt. 90 lange Stunden müssen Fahrer und Co-Pilot, die einander am Lenkrad abwechseln, an der Grenze des gerade noch möglichen fahren. Nicht bloß nach 18 Stunden am Passo di Xomo, sondern auch in der 75. Stunde und der vierten durchwachten und durchfahrenen Nacht am Passo di Gavia, wo der Geröllweg zwei Meter breit und links das abgründige Nichts ist: - Gas, schalten, abbremsen, Spitzkehre, Vollgas - schneller, schneller, da ist schon im Rückspiegel das antreibende Licht des Nachfolgers, Gas, Gas, Vollgas - 90 Stunden lang Temperaturen, die auf den italienischen, jugoslawischen und bulgarischen Streckenteil auch nachts nicht unter 30 Grad sinken und das Auto am Tage zur dreckigen Sauna macht. 90 Stunden lang alles durchdringender Staub der Vorderleute. 90 Stunden lang kein vernünftiges Essen, das belasten und müde machen würde, sondern bloß Traubenzucker und manchmal ein Schluck aus einer >schnellen Flasche<. 90 Stunden lang kein tiefer Schlaf, nur manchmal fünfzehn oder zwanzig halbwache, unruhevolle Minuten, wenn die Straße das für den Ko-Piloten zuläßt und er sein Bordbuch einmal zuklappen kann. Und 90 Stunden lang die Sorge, ob das Auto diese Marter übersteht. Nicht viele überstehen. |
|
1.
Kontrollpunkt Karlsruhe auf der Fahrt nach Spa / Belgien .
Am Steuer des Mercedes 230 SL Pagode sein Beifahrer Klaus Kaiser. |
|
In den beiden letzten Jahren, als Mercedes glanzvoll siegte, fielen von je zehn Wagen, die im belgischen Kurort Spa starteten, neun auf der Strecke aus. In diesem Jahr kommen von 107 gemeldeten Fahrzeugen immerhin 21 in Lüttich an. Aber was in Belgien nach 90 Stunden umjubelt ins Ziel rollt, sind zerschundene, bis zum Fragwürdigen zerschunden Wagen - und Menschen. Sie haben Strapazen hinter sich, für die es kein Gleichnis gibt. Und wenn die Menschen in Lüttich aus ihren Autos steigen, mit staksigen Beinen und fahrigen Händen, haben 5500 Kilometer ihre Spur in die Gesichter eingegraben. Es gibt die verbürgte Geschichte von einem Fahrer dieser Rallye, der in der vierten Nacht mit starren Augen seinen Ko-Piloten ansah und fragte: "Sag mal, wie heißt du eigentlich?" Es gibt die Geschichte von dem Beifahrer, der am Abend nach der Rallye Spaghetti bestellte, sich Zahnstocher in die Nudel schüttete, davon aß und dann am Tisch in einen todesähnlichen Schlaf fiel. Es gibt die vielen, vom Veranstalter mit Diskretion behandelten Geschichten und Tragödien jener Fahrer, die irgendwo auf den 5500 Kilometern zusammbrachen. Und es gibt auf jeder Rallye zwischen Spa, Sofia und Lüttich am Rande der Piste Dutzende von bös zerbeulten Wagen, die bezeugen, daß bei diesem Unternehmen der Bruchteil einer unaufmerksamen Sekunde gnadenlos quittiert wird. Nein, diese Rallye ist kein Sonntagsvergnügen; man muß Ihr Opfer bringen. |
|
"Gehetzt
von der Meute "
Im Nacken der Mercedes 230 SL Pagode ist auf unwegsamen Paßstraßen u.a. ein Citoen DS 19 |
|
- Eine Strapaze für Mensch und Auto - Man
muß die schwierigen Streckenteile vorher abfahren und das Bordbuch
präparieren, und man darf dabei nicht das Fürchten lernen.
Man muß die Ernährung auf die bevorstehenden Strapazen
einstellen - bevorzugte, seheschärfende Speise der Rallyefahrer:
Karotten - , man darf nicht viel trinken. Man muß Konitionsübungen
machen; harte Konditionübungen. Man muß sein Auto mit der
Akribie der preußischen Oberrechungskammer herrichten. Und wenn
man alles getan hat und der Start kommt und die lange Strecke, kann
alles für die Katz gewesen sein, wenn man nicht auch Glück
hat. |
|
Mit
unglaubhafter Geschwindigkeit jagten wirden Gavia-Paß hinauf,
zentimeterdicht an zackigen Felswänden vorbei, und einmal klopfte
ein Fels mit bösen Geräuschen an unseren ächzenden Wagen.
Wir schleuderten durch Spitzkehren, fegten haarscharf an entgegenkommenden
Autos vorbei, deren Insassen eintsetzt das Kreuz schlugen. Wir hetztn
unser Auto erbarmungslos durch knochenschüttelnde Schlaglöcher. |
|
Die Schwedin Ewy Rosqvist (re.)
auf dem Schoß von Eugen Böhringer. Spontanes Mercedes Team-Foto mit Beifahrern. ( - Rallye Monte Carlo 1963 - ) |
|
Bei
Eugen Böhringer, dem Mercedes-Fahrer Nr.1, ist alles anders.
Obwohl er es bestreitet, wissen und fürchten seine Konkurrenten ihn, weil er immer an die äußerste Grenze geht, immer alles riskiert, von sich und von Klaus Kaiser und von dem Mercedes 230 SL, den sie bei der Rallye fahren, in jeder Sekunde das Letzte, daß Äußerste, das gerade noch Möglich fordert. So ist er, der kleine, nette, unscheinbare 44 jährige Hotelier, mit dem Phantastisches vor sich gehen muß, wenn er sich in ein schnelles Auto setzt, Rallye-Europameister 1962 geworden. So ist er Sieger der Polen-Rallye 1961 und 1962 und Sieger der Deutschland-Rallye 1963 geworden. So hat er 1963 den >Großen Straßenpreis von Argentinien< und 1964 den >Großen Preis für Tourenwagen< auf dem Nürburgring gewonnen. So hat in diesem Jahr das belgische Publikum hingerissen und auch den fünffachen Grand-Prix-Weltmeister Fangio, als er beim 24-Stunden-Rennen von Francorchamps nachts in unglaublicher Fahrt Rundenrekorde fuhr. So hat er zweimal die gigantische Rallye Spa-Sofia-Lüttich gewonnen. So will er sie nun zusammen mit dem netten, jungen Klaus Kaiser, der immer die schwäbische Ruhe in Person ist, zum drittenmal gewinnen. "Leben Sie gefährlich, Herr Böhringer?" fragten wir ihn. "Nui, nui - woher denn !?" sagt er ein bißchen entrüstet. Und dann erkärt er, kräftig schwäbelnd, daß 80 Prozent der Schnellfahrerei durchaus kalkulierbares Risiko sei. "Und die anderen zwanzig Prozent?" - "Hano, die Umschtänd halt." |
|
Flott
unterwegs in Norditalien
auf der Passstraße "Passo di Xomo" |
|
Die
Umstände also. Vom Glück spricht er nicht. Statt dessen bestellt
er in seinem schönen gelegten Hotel in den Weinbergen von Stuttgart-Rotenberg
- in der Garage: ein 230 SL und ein 300 SL, den er besonders liebt -
noch ein Viertele Roten und amüsiert sich darüber, daß
die Journalisten seinen Lebenswandel für |
|
Die
blonde Baronin Korff und Beifahrer Schieck auf einem Mercedes 220
SE sind Sechste. In einem einteiligen, engen, himmelblauen Anzug -
was für ein Kontrast zum blonden Haar! - steigt die erstaunliche
Frau am Ziel stürmisch umjubelt aus ihrem Auto, lächelt,
winkt, läßt sich gratulieren. Aus der Nähe aber sieht
man auch in ihrem Gesicht tiefe Spuren der 90-Stunden-Marter. ( Text: Rolf Winter - Zeitschrift "KRISTALL" 1964 ) |
|